Für Einander da sein
Wie können wir spontan füreinander da sein, wenn wir gebraucht werden? Was hindert uns daran? Eigentlich würden wir das ja wollen und wünschen uns das auch von unseren Mitmenschen. Um Antworten auf diese Fragen zu finden habe ich meinen Geist untersucht.
Als meine Schwester vor zwanzig Jahren starb, bin ich nicht hingegangen. Es war der Kopf, der das Herz blockiert hat. Und zwar durch die Vorstellung, ich müsste, ich sollte einer moralischen Verpflichtung folgen und dagegen habe ich mich innerlich gewehrt. Für tieferes Mitempfinden war kein Raum, es konnte sich nicht entfalten. Das verstehe ich heute und kann es bedauern. Ist es nicht verrückt, dass es moralischer Zwang ist, der Mitmenschlichkeit behindert? Infolge dessen beschäftigen wir uns mit Schuldgefühlen, Aversionen und Wiedergutmachungs-Phantasien. Alles Operationen, die wiederum im Kopf stattfinden. Genau genommen, es dreht sich alles nur um uns selber. Das kann man Egozentrismus nennen – im Kleinen wie im Grossen. Als mir vor Jahren ein buddhistischer Mönch erklärte, Schuldgefühle seien ein Problem des Egos, war ich nachhaltig befreit. Seitdem kann ich diese Gedankenkonstruktionen erkennen, sobald sie sich anbahnen, und mich entschlossen meinem Herzen zuwenden mit der Frage: Wonach verlangt mein Herz – eigentlich?
Wenn wir seinem Bedürfnis folgen, passieren Dinge, die wir uns nicht haben vorstellen können: Weisheit und Liebe manifestieren sich wie von selber ohne unser krampfhaftes moralisches Bemühen, wir werden zu Mitwirkenden in einem grösseren Geschehen.
Immer wenn ich das erleben darf, kommen mir die Verszeilen von Rainer Maria Rilke in den Sinn:
…«Wie ist das klein, womit wir ringen,
Wie ist das Gross, das mit uns ringt…»