Ganz normale Menschen
Ich hatte immer gedacht, dass nur spezielle Menschen, in speziellen Arbeitsfeldern wie Beratung, Sozialarbeit, Pädagogik, Pflege oder Betreuung, das tätige Mitgefühl im Alltag üben und verwirklichen können. Also, an der Migros Kasse oder als Sekretärin in einem Wirtschaftsunternehmen, als Mechaniker oder Bauarbeiter wäre das nicht möglich, da müsste man sich dann in der Freizeit eine geeignete Aufgabe suchen um die Möglichkeit zu haben, sich im Geben von Mitgefühl zu üben. So hatte ich gedacht, doch dann…
auf einer Bahnreise: Unterwegs von Zürich nach Budapest besuchten Sita und ich das Zugrestaurant. Es war voll, alle Tische besetzt. Auf dem Tresen vor dem Buffet stapelte sich das schmutzige Geschirr, leere Flaschen, Papierservietten und zerknüllte Tischsets lagen in wildem Durcheinander zwischen Tassen und halb leergegessenen Tellern. Vor dem Tresen warteten hungrige und durstige Reisende, hinter dem Tresen ein Mann allein, fröhlich, ja beinahe strahlend verkündete er jedem, der neu in dem Speisewagen auftauchte: «Hallo, ich habe Dich gesehen. Sobald es geht werde ich Deine Bestellung aufnehmen!»
Auch ich stand vor dem Tresen und wartete. Immer wieder lachte mich dieser Mann an und sagte: «Ich bin gleich soweit, nur einen kleinen Moment noch!» mir wurde selber ganz fröhlich zu Mute und das Warten war gar nicht schlimm. Dann betrat ein älterer Herr den Speisewagen. Er hielt zwei halbvolle Tassen in der Hand und beschwerte sich so laut, dass es alle gut hören konnten: «dieser Kaffee war schon kalt, als er mir und meiner Frau an den Platz gebracht wurde. Das können wir nicht trinken. Jetzt bin ich selber gekommen um einen heissen Kaffee zu holen, anders geht es ja wohl nicht!» Der Mann hinter dem Tresen blieb so ruhig und fröhlich wie zuvor und antwortete: «Ja, das haben Sie wirklich gut gemacht, dass sie selber gekommen sind. Geben sie mir die Tassen, sobald ich soweit bin, bekommen sie einen schönen heissen Kaffee! Jetzt, wo sie hier sind, kann nichts mehr schief gehen.» Er schaute in die Runde, schmunzelte und nahm die nächste Bestellung auf. Auch ich bekam bald darauf meinen Tee über die Geschirrberge gereicht und wurde höflich nach weiteren Wünschen gefragt.
auf einer Wanderung: Heute Nacht soll es Regen und starke Gewitter geben, so die Wetterprognose. Für meine Pilgerfreundin ist ein Bett in einem 6-er Zimmer reserviert, leider das letzte verfügbare Bett im Massenlager. Ich muss mein kleines Einer-Zelt auf der Zeltwiese aufstellen. Wir sind müde als wir beim Camping ankommen und ich möchte auf keinen Fall in meinem winzigen Zelt schlafen, wenn ein Gewitter im Anzug ist. Vielleicht gibt es doch noch ein Bett im Massenlager, … aber ehrlich gesagt, freuen wir uns beide auch nicht unbedingt auf ein volles Massenlager, … doch besser als das Miniatur-Zelt im Regen wäre es auf jeden Fall…. An der Reception sehen wir einen Mann, der sowohl für die Getränkeausgabe im Restaurant wie auch für den Empfang der neu ankommenden Campinggäste zuständig ist. Es sind viele Menschen da, alle brauchen etwas oder haben Fragen. Als der Mann sich uns zuwendet, frage ich mit wenig Hoffnung nach einem weiteren Bett im Massenlager. «Aber nein, da ist alles voll und Sie haben doch einen Stellplatz für das Zelt reserviert, nicht wahr?» Ich verweise auf das Gewitter, auf mein kleines Einer-Zelt und frage nach einem Wohnwagen. Ob man vielleicht einen Wohnwagen mieten könnte. Nein, auch die Wohnwagen sind alle besetzt, es ist Samstagabend mitten in der Hochsaison auf einem Campingplatz am See. Der Mann schaut uns wieder an, ruhig, voller Mitgefühl und Verständnis und sagt dann: »Vielleicht kann ich euch helfen. Heute ist mein eigener Wohnwagen zurückgekommen, er ist nicht gereinigt, aber vielleicht kann er euch dienen. Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn gleich anschauen.» Er lässt alles stehen und liegen, kramt nach einem Schlüssel und einem Bettlaken und begleitet uns zu seinem Wohnwagen. Wenn ihr wollt könnt ihr diese Nacht hier schlafen. Ich hätte den Mann umarmen können, so unglaublich erleichtert und dankbar war ich. Doch er war schon wieder unterwegs zurück zu seiner Arbeit.
Am nächsten Morgen lesen wir auf einer Tafel, dass es im Restaurant ein Frühstücksbuffet gibt, allerdings auf Vorbestellung. Am Buffet treffen wir auf unseren Retter vom Vortag, gut gelaunt und voller Elan bedient er die Kaffeemaschine. Wir fragen etwas zurückhaltend nach dem Frühstücksbuffet ohne Vorbestellung…. «kein Problem, geht einfach da drüben in den kleinen Raum und bedient euch, bezahlen könnt ihr dann alles bei der Abreise.»
Diese beiden Männer haben mir gezeigt, wie ganz gewöhnliche Menschen, in ganz gewöhnlichen Arbeitsfeldern uns als «Bodhisattvas» erscheinen können. Ich kann das, ja wir alle können das auch, jederzeit, an jedem Ort..