Schmerzliche Erkenntnis
Ich sitze auf einer Bank am Busbahnhof in Tiburtina (Vorort Roms). Meine Pilgerreise von Assisi nach Rom auf dem Franziskusweg endet heute. Es ist Abend und ich warte auf den Flixbus, der mich am nächsten Morgen in Zürich ankommen lässt. Die letzten warmen Sonnenstrahlen sind über der Szenerie. Das Gewusel an Menschen, Gepäck und Bussen beginnt sich zu lichten. Ein Sitznachbar fragt mich, ob ich einen Moment auf seine Sachen aufpassen kann. „Ma certo“- sicher doch. Folgender Gedanke geht mir durch den Kopf:
Wieso sind die Menschen so misstrauisch?? (die Antwort kommt bald postwendend)
Kurz darauf ist der Sitznachbar wieder da. Ich muss auch mal kurz weg. Soll ich ihn fragen, ob er auf meinen Rucksack aufpasst? Nein, nicht nötig, ich habe doch Vertrauen….Ich schaue kurz, ob der eingefahrene Bus der meine ist – nein – suche nochmals die Toilette auf. Höchstens 3/4 Minuten sind es wohl, die ich weg bin. Mein Rucksack steht am Boden an der Mauer, neben meinem Sitzplatz. Ich komme zurück. An „meinem“ Sitzplatz, da sitzt eine andere Frau, der Nachbar von vorhin ist noch da, doch wo ist mein roter Rucksack??? Ich erkläre den beiden, dass mein Rucksack weg ist. Der Sitznachbar von vorhin sagt, er hätte mit einem Mann gesprochen und hätte nichts gesehen. Beide sind betroffen, helfen suchen. Wir laufen umher, ich bin entsetzt und fühle mich hilflos…und merke gleichzeitig, wie dieses Herumlaufen und Suchen keinen Sinn macht. Zu dritt suchen wir also diesen Rucksack…könnte es sein, dass jemand ihn verwechselt hat? Nichts zu machen, der Flixbus kommt an, er fährt bald ab, ich muss einsteigen, muss keinen Rucksack verladen. Immer wieder stehe ich auf, schaue nach draussen, suche…es kann doch nicht sein… Ich merke, wie ein Mann auf einer Bank mich mit seinem Blick fixiert. Schaue zurück, hat er irgendwas mit dem Vorfall zu tun, er schaut und schaut. Ich frage ihn mit Gesten, ob er mich beklaut hat. Er grinst und schaut weiter in meine Richtung. So, abbrechen sagt mein Gefühl, dieser Dialog bringt gar nichts….
Der Bus setzt sich in Bewegung, jetzt werden Fakten geschaffen. Dank meiner Bauchtasche hatte ich noch etwas Geld und das Busticket war darin verstaut. Ich kann es nicht fassen — der ganze Rucksack—— einfach weg. Mein Tagebuch, der Reiseführer, Adressen, die Postkarte von der Wunderbrücke, mein Lieblingsschal, ca. 500 Fr., meine neuen Gehstöcke, das Regencape, Windjacke, meine Kleider, das Necessaire etc. Ich gehe akribisch durch, was alles im Rucksack war und entdecke auch: Oh, der komische Sonnenhut, ich bin froh, dass er weg ist. Alles in allem fühle ich mich wie erschlagen. Die Nacht bricht herein, ich schlafe ein bisschen. Der Nebensitz ist leer, so kann ich mich richtig einkugeln. In Mailand ist Zwischenhalt, es ist morgens um ca. 2 Uhr und es giesst in Strömen. Ich habe etwas kalt, meine Windjacke fehlt. Ich hoffe, dass in Zürich angenehmere Temperaturen sind, sonst muss ich noch einen warmen Pullover kaufen.
Gegen morgen habe ich etwas Abstand bekommen zum Zwischenfall. Soso, denke ich, mit 67 Jahren mache ich also erstmals in meinem Leben die Erfahrung, „beklaut“ zu werden. „Es ist wie es ist“ – alles ist weg und so nehme ich es hin. Worte des Dalai Lama kommen mir in den Sinn. Sinngemäss: Wenn sich was ändern lässt, braucht man sich keine Sorgen zu machen, wir können ja was ändern. Und wenn man nichts ändern kann, dann ist es so, wie es ist und die Sorgen wären eine zusätzliche Belastung. Ich nehme die Vorteile keinen Rucksack zu haben wahr. In Zürich steige ich aus, ohne auf mein Gepäck zu warten. Ich muss nichts tragen…und zuhause gibt es auch nichts zu waschen. Ich muss ein wenig schmunzeln…
Die Erkenntnis: Ich werde wohl in Zukunft mein Gepäck nicht mehr unbeaufsichtigt stehen lassen.
Ich hoffe einfach, dass es jemand geklaut hat, der sehr arm ist, was in der Umgebung von Rom wohl keine Seltenheit ist und der den Inhalt gut gebrauchen kann.
One thought on “Schmerzliche Erkenntnis”
Liebe Ines
Deine wahre Geschichte liest sich flüssig und ich war total hin und weg beim Lesen. Danke fürs Teilen.