Wiederkehr des Verdrängten
Kürzlich hatte ich ein Erlebnis des Bewusstseinswandels ganz besonderer Art. Ich bin Jahrgang 1949 und nun seit 75 Jahren auf der Welt. Noch nie habe ich mit meinen Freunden, die ich seit vierzig Jahren kenne, über das NS-Regime und die daraus folgenden Katastrophen für die Welt gesprochen. Wir haben Eltern, die dabei waren. Jetzt ist es soweit. Das Verdrängte kommt wieder an die Oberfläche. Der Krieg in Palästina ruft uns die Konsequenzen der Hitlerschen Vernichtungspolitik ins Bewusstsein. Mit seiner «Endlösung der Judenfrage» traf er auf Feindbilder in ganz Europa, die seit dem Mittelalter virulent waren. Das ist historisch belegt. Neu ist, dass ich Sprache und Gesprächspartner finde, die sich diesen Tatsachen in ihrer historischen Dimension und Verantwortung bewusstwerden. Es ist als ob Eis schmelzen würde. Dafür bin ich sehr dankbar, gleichzeitig spüre ich die Wirkung des Schweigetabus. Unbeholfen suche ich nach Worten, die von mir noch nicht gesprochen wurden. Ich habe Bilder in mir, Gefühle und Wissen, alles gleichzeitig. Die Erinnerung ist emotional gespeichert, nicht in Worten. Um zu sprechen muss ich eine Barriere überwinden. Gemeinsam versuchen wir es, wir fügen Bruchstücke unseres kollektiven und individuellen Bewusstseins zusammen. Es geht! Und noch einen heilsamen Aha-Effekt erlebe ich: So ist es möglich auch über Politisches zu sprechen, das wir aus den Medien wissen, ohne uns im Streit darüber zu verfangen, welche Meinung zu dem Geschehen die richtige und welche Meinung die falsche ist.