Alles nicht wahr
Auf der Suche nach einem neuen Friseur fand ich einen kleinen Salon, der mir sofort gefiel. Eine ca. vierzigjährige Frau begrüsste mich. Ihr Deutsch klang gebrochen und den Akzent ordnete ich dem Balkan zu. Beim Haareschneiden erzählte mir die Frau, sie habe den Salon erst vor kurzem übernommen und sie sei alleinstehend. Doch schon bald würde sie sich einen Hund anschaffen, einen Dackel, dann sei ihr Leben perfekt. Unbefangen und fröhlich sprach sie von ihren Ferienplänen in Kroatien und dass sie mit dem Computer nicht zurechtkäme. Mit der Zeit lernte ich Diego, den Dackel kennen und manchmal sprachen wir auch über ihre Geldsorgen. Auf dem Weg zu dem kleinen Salon konstruierte mein Geist jeweils alle möglichen Geschichten, wie: diese alleinstehende Frau muss ein wenig unterstützt werden, sicher hatte sie es schwer und als Coiffeuse ist sie wahrscheinlich etwas einfach gestrickt, vielleicht hatte sie einen gewalttätigen Mann, ist aus dem Balkan geflüchtet, aber auf jeden Fall ist sie für ein offenes Ohr und eine treue Kundin sicher dankbar……
Wie überheblich und vor allem, alles gar nicht wahr…….
Denn dann kam der Morgen, an dem zaghaft an die Tür des Salons geklopft wurde. Die Coiffeuse liess mich mit nassen Haaren sitzen, öffnete die Tür und eine alte Dame trat ein. Die beiden unterhielten sich einen Moment, …diese Sprache hatte ich doch schon einmal gehört… «Die alte Dame ist aus der Ukraine geflüchtet, sie ist alleine hier und kommt bei mir vorbei, wenn sie Hilfe braucht. Ich unterstütze sie gerne», erklärt meine Coiffeuse. Wir sprechen über den Krieg in der Ukraine. «Ich komme aus Kasachstan, spreche Russisch und habe ein kleines soziales Projekt», fährt die Frau fort. «Ein kleines Projekt?» frage ich erstaunt. «Ja, jeden zweiten Sonntag trifft sich eine Gruppe Menschen, Flüchtlinge aus der Ukraine und aus Russland, in meinem Salon. Wir arbeiten jeweils gemeinsam an einem Thema. Das letzte Mal war es die Aroma-Therapie, manchmal geht es auch nur darum ein Formular richtig auszufüllen oder den Fahrplan zu verstehen, die Stühle darf ich immer in der gegenüberliegenden Pizzeria holen.» Sie weist mit der Hand über die Strasse und sieht mich freudestrahlend an. “Manchmal sind wir mehr als zwanzig Personen, die sich hier treffen, da ist der Platz schon knapp.»
Ich war völlig überrascht, das hatte ich nicht erwartet…. beschämt war ich erst später.
One thought on “Alles nicht wahr”
Vielen herzlichen Dank für diesen Einblick in Deine Erfahrung, liebe Pundarika!
Ich kenne es nur zu gut mir aus meinem Erleben Geschichten zu erzählen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
So fühle ich mich aufgerufen, noch mehr Achtsamkeit auf meinen Geist zu lenken.