«Was soll ich nur einkaufen?!»
«Was soll ich nur einkaufen?!»
Artikel im Magazin vom 8.1.22
Autor: Finn Schlichenmaier
Wochenend-Beilage zu allen grossen Schweizer Zeitschriften
Der Autor ist unterwegs zum Einkaufen, in einer riesigen Migros-Filiale, in der es neben Lebensmitteln auch Kleidung, Haushaltsartikel, Spielzeug, Schreibwaren, etc. gibt.
Er ist ohne Einkaufszettel unterwegs, möchte sich eigentlich von den Auslagen inspirieren / verführen lassen – aber geht das überhaupt noch, wenn man klimabewusst, nachhaltig, saisonal und regional einkaufen möchte, selbst einen bewussten Beitrag zu Beendigung der Konsum- und Klimakrise leisten möchte?
So steht er am Eingang der Lebensmittelabteilung inmitten von Bergen von Bananen, tropischen und exotische, Früchten, Citrusfrüchten, die alle einen weiten Weg aus aller Herren Länder hinter sich haben und auch die WWF und Max-Havelaar-Aufkleber ändern daran nichts. Er entscheidet sich die hoffentlich am wenigsten verwerflichen Bio-Zitronen aus Spanien zu nehmen.
Weiter geht es mit dem Verzicht auf Mangos, Avocados, etc. aus Übersee, aber auf den Ingwer aus China will er nicht verzichten, dafür landet dann ein 6er Pack Schweizer Bio-Äpfel in seinem Einkaufskorb. Er erlebt, dass jeder Einkauf zu einer mittelschweren moralischen Belastung wird, wenn man sich einmal entschlossen hat das Konsumverhalten auf Nachhaltigkeit auszurichten.
Nun berichtet er von einem Moral-Balance-Modell, wonach «Handlungen mit moralischem Gehalt nicht isoliert, sondern als Glieder in einer Kette von guten oder schlechten Taten, die in der Bilanz einen persönlichen und momentanen «Moral-Score» ergeben, erfolgen.
Dieser Theorie zufolge richten wir unser Handeln nach dem Punktestand des guten oder schlechten Gewissens aus. Um ein positives Selbstbild zu bewahren, versuchen wir also ein gewisses Niveau nicht zu unterschreiten. Deshalb die Äpfel, trotz des Ingwers.
Auf Deutsch nennt man das «moralische Lizensierung», die, laut Studien, in unterschiedlichsten Lebensbereichen greift:
So zum Beispiel auch in Experimenten über sexistische oder rassistische Äusserungen, denen die Probanden öfter zugestimmt haben, wenn sie vorher die Möglichkeit hatten politisch korrekte Antworten zu geben.
Der Autor ist einigermassen zufrieden mit seinem inneren Punktestand und wird kurz verführt bei den leckeren Pfifferlingen zuzugreifen, die allerding aus Litauen stammen, aber das positive Gefühl war einfach zu gut, und belasten sein Konto dennoch, weil er ja auch noch Milchprodukte braucht.
Nun geht’s vorbei an der Fleischtheke, opulent gefüllt mit allem was das Herz des Grill-Freundes begehrt, daneben, kunstvoll arrangiert, Wolfsbarsche, die eine ganze Grizzli Familie länger gesättigt hätten. Hier überkommen den Autor Zweifel, ob sein Verzicht auch nur einen einzigen Wolfsbarsch oder die Welt rettet, ob wohl irgendjemand davon profitiert, dass er versucht, möglichst klimagerecht aus dem Supermarkt zu kommen!?
Also schaut er ins Geflügelregal, die Bio-Hühner wären doch was. Allerdings ist Bio-Tierhaltung eigentlich auch schlechter für das Klima, die Tiere brauchen mehr Platz und Zeit, Platz, der eigentlich mit CO2 speicherndem Wald bewachsen sein sollte.
Schliesslich stellt er fest, dass er schlicht zu wenig weiss und zu viele Fragen hat und lässt das Hühnchen im Regal: Kein Hühnchen, keine Minuspunkte – immerhin.
Als nächstes nimmt er sich das schmale Regal in einer Ecke mit den Fleischersatzprodukten vor. Hier ist er einen Moment befreit vom Abwägen, hin- und herdrehen der Packungen. Es fühlt sich fast so an wie früher, als man einfach noch nahm, worauf man Lust hatte.
Denn, wenn man sich heute gegen die Aufforderungen aus allen Richtungen von «Kauf mich», «Koch mich», «Iss mich», «Na? Keine Lust auf erlesenen Schinken?» schützen möchte, muss man quasi mit einem Tunnelblick durch den Supermarkt streifen, sei man zu einer Übung mönchischer Askese gezwungen.
In der Psychologie, so informiert der Autor weiter, gäbe es Belege dafür, dass wir einen «moralischen Muskel» hätten, der uns diszipliniert und uns die Kraft gäbe, Versuchungen zu widerstehen.
Dieser Muskel sei für alle Momente der Selbstkontrolle zuständig, und könne trainiert werden. So sei es z.B. Probanden besser gelungen mit dem Rauchen aufzuhören, wenn sie vorher zwei Wochen lang auf Süssigkeiten verzichtet hätten.
Der Autor fühlte sich in der Phase des Aufbautrainings: Vor dem Nussregal nimmt er eine Packung Bio-Cashewnüsse auf, entdeckt das Herkunftsland Vietnam und legt es zurück ins Regal. Er spüre die Früchte der Übung bereits, denn früher wäre er an dieser Stelle wohl eingeknickt, weil er schon zu viel Verzicht geübt habe.
Die nächste Frage ist, ob er seinen Reisvorrat heute schon auffüllt?
Die weltweite Reisproduktion hat einen riesigen Verbrauch an CO2, laut einer Studie mehr CO2 Äquivalente als die gesamte Milchproduktion und verbraucht vor allem enorme Wassermengen, was in manchen Reisanbaugebieten bereits äusserst knapp ist.
Der moralische Muskel spielt, es landet statt Reis Couscous aus Italien im Korb. Nun aber noch der Kaffee, der sehr viele Minuspunkte bringt und doch unverzichtbar ist.
Der letzte Posten, Bio-Honig, macht die Absurdität noch einmal deutlich. Bio-Honig aus Mexiko, Peru oder Brasilien ist nur halb so teuer, wie der einheimische! Hier wird ihm deutlich, was für unseren günstigen Komfort nötig ist:
«Harte, möglicherweise ausbeuterische Arbeit auf mexikanischen Feldern; eine ganze Fossilien-Industrie, um die Motoren der Logistik am Laufen zu halten, ökonomische und politische Asymmetrien zwischen einem globalen Westen und dem Rest der Welt.»
Für den teuren Schweizer Honig sei er allerdings noch bereit, schon gar nicht aus finanziellen Gründen. Da bräuchte er noch ein paar mehr Trainingslager, mehr Schweiss, mehr Härte.
Nun fragt er sich nach seiner Gruppenzugehörigkeit: gehöre er bereits zu einer Randgruppe, die mit einem schmalen, leicht zu übersehenden Regal alternativer Lebensmittel abgespeist wird? Wird er in eine exotische Randgruppenexistenz gezwungen, wenn er versucht verantwortungsbewusst zu handeln und der Flut weit gereister im Überfluss angebotener Genussmittel auszuweichen?
Er fühlte sich im Stich gelassen und überlegte besser gleich politisch aktiv zu werden und auf seine kleine Verbrauchermoral lieber zu verzichten.
Es werden Milliarden in die fossilen Energien gesteckt, riesige Länder verzichten vollständig auf eine Abkehr von Kohlekraftwerken – ohne ein gesamt-gesellschaftliches Umdenken kann der Klimawandel nicht aufgehalten werden.
«Hätte die Weltbevölkerung den Lebensstil von uns Schweizer: innen, wären fast drei Erden nötig, um uns mit Ressourcen zu versorgen. Dramatische Veränderungen in unserem Lebensstil sind ja keine Option mehr, sondern bittere Notwendigkeit!»
Beim Klimagipfel in Glasgow mahnte ein Klimaforscher, dass die reichsten zehn Prozent in Europa ihren ökologischen Fussabdruck bis 2030 um 90% reduzieren müssten, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Und das ist nur der Erhalt des Status quo und noch keine Absenkung der Erderwärmung.
Es bleibt also keine Zeit mehr, in der wir uns um den Verzicht von z.B. Fleisch oder Flugreisen drücken könnten. Und wir sind nicht machtlos. Einer Studie zu Folge, könnten mehr als die Hälfte der globalen CO2 Emissionen durch Anpassungen auf der Nachfrageseite reduziert werden.
Das bringt den Autor zu dem scheinbaren Gegensatzpaar von Individuum und Gesellschaft. Es gibt Argumente, dass der Verzicht des Einzelnen doch global nichts bewirkt und man sich als Einzelner vielleicht gern auch beschränkt, wenn «die da oben» entsprechende Gesetze oder Beschränkungen liefern.
Diese Entscheidungsträger sind ja nun aber auch nur Menschen, die am Ende des Tages nach Hause zurückkehren und ihren leeren Kühlschrank in einer der Supermarktketten auffüllen müssen.
Was wäre also, wenn «die Supermärkte radikal grün wären, die Fleischtheke weg, die exotischen Früchte ebenso, wenn man darin nur finden würde, was man in Einklang bringen kann mit dem Klima, wenn auf der Karte im Restaurant kein Fleisch und keine Crevetten zu finden wären, wenn alles schreien würde: «Schützt das Klima!»?
Wären dann immer noch alle Politiker: innen und Banker: innen und Wirtschaftsliberalen zu träge mit dieser existentiellen Krise umzugehen?
Wir Menschen richten uns alle nach sozialen Normen und diese Wirkmacht wurde wiederum durch Studien belegt:
Untersucht wurde das Verhalten von Hotelgästen, in Bezug zur Wiederverwendung der Handtücher. In einem Hotel wurden die Gäste durch zwei verschiedene Karten gebeten die Frottiertücher wieder zu verwenden. Auf einer war allgemein auf die ökologischen Vorteile der Wiederverwendung hingewiesen worden, auf der anderen fand sich der Hinweis, dass eine grosse Mehrheit der Gäste die Handtücher wieder verwenden würde. Der zweite Hinweis erwies sich deutlich handlungsleitender. Noch mehr Gäste entschieden sich für die Wiederverwendung, wenn auf der Karte stand, dass die Gäste dieses Zimmers die Handtücher wieder verwenden würden.
Je näher wir uns also einer Gruppe räumlich fühlen, über deren Verhalten eine Aussage gemacht wird, um so deutlicher wird der Einfluss auf unsere Norm.
Am Ende kommt es also auch tatsächlich mit darauf an, was unser Umfeld macht, bzw. was uns im Alltag als scheinbare Norm begegnet: Die Signale in den Begegnungszonen der Menschen zeigen allzu oft in die falsche Richtung:
Im Restaurant betont die ausladende Fleischkarte: hier essen alle Gäste Fleisch. Die Superauslagen von exotischen Früchten suggerieren, dass es normal ist diese Früchte, um die halbe Welt zu fliegen und selbstverständlich auch zu konsumieren.
Und wenn die alternativen Lebensmittel und Fleischersatzprodukte ein schier unauffindbares Schattendasein im Supermarkt führen, suggeriert dies: Menschen, die das hier kaufen sind in der Minderheit.
Für ein Umdenken und Handeln braucht es die Konsument:innen ebenso wie die Politik und die Wirtschaft, die gesamte Gesellschaft und jeden Einzelnen.
Am Ende des Einkaufs erwischt sich der Autor dabei, wie er in die Einkaufskörbe der anderen Kund:innen linst und versucht sein Selbstwertgefühl an den ökologischen Fehlgriffen der anderen zu erbauen. Das funktioniert nur einen kurzen Moment, dann widert ihn seine moralische Überlegenheitshaltung selbst an und er blickt auf die eigene mühselig ausgesuchte nachhaltige Auswahl:
«Ihr haftet etwas Freudloses, etwas irgendwie Trauriges an. Das Einkaufen ist nicht das was es mal war. Die Migros schon.»