Frau Komachi empfiehlt ein Buch
«Wonach suchen Sie?» Diese gleichermassen erwartbare, schlichte und sehr tiefgründige Frage stellt Frau Komachi den Besuchern einer Bibliothek, die in einem Gemeindezentrum in einem Vorort von Tokio untergebracht ist. In dem Buch «Frau Komachi empfiehlt ein Buch» von Michiko Aoyama werden wir mit fünf Menschen vertraut gemacht, die alle an einem Punkt in ihrem Leben angekommen sind, an dem sie einem Impuls folgend vielleicht ihrem Leben eine neue Richtung geben wollen und die Bibliothek aufsuchen. Sie stehen in fünf verschiedenen Lebensaltern, von Anfang 20 bis Mitte 60, und besuchen durch Zufall – eine Empfehlung oder Fügung – eben diese Bibliothek auf der Suche nach Anleitungen oder Ratgebern. Sie werden von einer jungen Angestellten an die Bibliothekarin verwiesen, die Auskunft über die vorhandenen Buchtitel geben kann. Frau Komachi ist keine ansprechende Erscheinung. Sie beschäftigt sich mit Filzen, stellt aus Schafwolle kleine Talisman-Formen her, wenn ihre Expertise gerade nicht gebraucht wird. Für sie selbst ist diese Tätigkeit tiefe Meditation. Sobald eine BesucherIn an ihren Auskunftstresen tritt, wendet sie sich mit einem intensiven, erkennenden Blick und einer warmen Stimme mit- und einfühlend den Menschen zu: «Wonach suchen Sie?»
Sie übergibt ihnen schliesslich einen Ausdruck der Bücher zu dem gewünschten Thema. Als letzten Eintrag schreibt sie einen Buchtitel dazu, der die Menschen irritiert. Sie empfiehlt Ihnen intuitiv ein Buch, das sie auf dem Weg der sich anbahnenden Veränderung unterstützt. Als Zugabe bekommen sie aus dem Fundus der von Frau Komachi gefilzten Formen einen Talisman geschenkt. Sie scheint die suchenden Menschen intuitiv zu erfassen, begegnet ihnen mit Anteilnahme und einer sensitiven Wahrnehmung dafür, womit sie denjenigen, der vor ihr steht, unterstützen kann.
Wonach suchen wir – in dieser unwägbaren, wirbelsturmartigen Zeit? Wonach suche ich – wenn ich nicht die nächste Anschaffung, Reise oder Vergnügung suche, von der ich weiss, dass sie nur kurzfristig Ablenkung vom Eigentlichen schafft?
Mich hat die schlichte Tiefgründigkeit der Frage zutiefst berührt, weil sie zu dem führt, was wir so dringend brauchen und einander geben können: Gesehen zu werden von unserem Nächsten in dem, was uns am Herzen liegt; einen kostbaren, unterstützenden Hinweis geschenkt zu bekommen auf das, was wir selbst in unserem Leben für uns und unsere Mitwelt heilsam tun und verändern können.
Und – wir wissen nie, in welcher Form und zu welcher Gelegenheit uns ein Bodhisattva begegnet.
Michiko Aoyama «Frau Komachi empfiehlt ein Buch», 7. Auflage 2025, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 20099 Hamburg