Wie finden wir in die Sprache des Herzens
Ich sass im Zug nach Horb und hörte eine Durchsage über die geltenden Corona bedingten Einreisebestimmungen nach Deutschland. Sie trieb mir die Tränen in die Augen. Anders als bei den üblichen formalen Ansagen, die wie vom Band kommen, und bei denen man weghört, war ich mitten ins Herz getroffen. Der Zugchef sagte: Liebe Fahrgäste Corona hat uns immer noch im Griff, deshalb bitte ich Sie…Er sagte es mit einer solchen Wärme und Menschlichkeit in der Stimme, dass ich mich sofort verbunden fühlte mit unserer verzweifelten Lage als Menschheit, mit allen Fahrgästen im Zug und mit ihm als Individuum irgendwo hinter dem Lautsprecher. Gleichzeitig fühlte ich mich auch getröstet. Ja wodurch eigentlich? Dadurch dass ein Beamter der deutschen Bahn den üblichen Rahmen der Funktionalität und Formalität verlassen hatte und seine Betroffenheit mit mir teilte.
Diese kurze Szene, hat mir gezeigt, dass es immer die Möglichkeit gibt, mit allem was ist in die neue Ordnung, die wir so dringend brauchen, zu kommen. Es liegt an der Art wie wir miteinander sind, bzw. sprechen. Sie kann das Herz zu machen oder sie kann es öffnen und das ist gar nicht so leicht – aber möglich. Ich habe mich selbst beobachtet, wie verhalte ich mich, wie spreche ich. Wann mache ich dicht, wie gelingt Öffnung, bei mir beim anderen. Wenn Öffnung gelingt, entsteht Vertrauen und Zuversicht. Wenn nicht, fühle ich mich hilflos, ohnmächtig, leer, abgeschnitten, irreal. Dann frage ich mich: Warum erwachen wir eigentlich nicht – es ist doch schlimm genug.
Es ist dann als wäre alles nicht wahr: Corona nicht, Klimakatastrophe nicht, Artensterben nicht – und man könnte sein gewohntes Leben einfach so weiterführen.
Jetzt bin ich trotz hohem Impfschutz und gutem Immunsystem auch an Corona erkrankt. Ich
fühle mich mit allen anderen krank und denke an das Vimalakirti Sutra. Alles ist krank, wieso soll ich gesund sein, die Erde ist krank, die ganze Menschheit ist krank, ich bin krank. Das zu begreifen, wäre ja der Schlüssel zur Umkehr. Wir erleben jetzt genau das, was zu erleben ist, was der Zustand unserer Welt ist. Aus dem Gleichgewicht geraten und deshalb krank.
Mein Bewusstsein will sich auch jetzt noch abspalten. Es gelingt aber nicht, ich bin zu schwach dazu. Stattdessen steigt der verzweifelte Ruf nach einer anderen Ordnung in meinem Herzen auf, nach einer Ordnung der Liebe, die es zwar geben könnte, die aber noch nicht ist.
Bei Joanna Macy las ich eine Beschreibung über die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling.
Das alte System Raupe ist zu Ende und verpuppt sich. Mitten in diesem Kokon entstehen neue ganz andersartige Zellen, die bereits zur Ordnung eines Schmetterlings gehören, sie organisieren das Leben auf eine andere Weise. Sie werden Knospenzellen genannt. Weitere solcher Zellen lagern sich an. Die alte Ordnung des Systems Raupe ist alarmiert, sie aktiviert ihr Immunsystem und versucht die neuartigen Zellen zu zerstören. Das neue System kämpft nicht, es wächst einfach.
Dieses Bild begleitet mich seitdem und gibt mir Trost, könnte so unsere Verwandlung gehen?
Ich möchte mich diesem Wandel zur Verfügung stellen mit ganzer Kraft, ganzer Seele und ganzem Herzen. Ich habe eine solche Sehnsucht nach wirklichem Kontakt, wirklichem Sein, ich möchte wissen, wie es euch wirklich geht. Mir wird bewusst, dass unsere Erde uns in Ihrer blauen Sauerstoffhülle durchs Universum trägt, wie ein Mutter Ihr Kind. Wir segeln durch das Weltall wie in eine blaue Fruchtblase gehüllt von äusserster Zartheit. In Trauer und Sorge wird mir das bewusst und ich spüre meine Entschlossenheit, mich für das Leben einzusetzen. Ich spüre die Bedrohung dieses Lebens in Form der Schwäche, die nun meinen Körper ergriffen hat, ich spüre den Ruf nach Neuwerdung. Ich spüre, dass wir einander brauchen, um das fertig zu bringen. Im Sutra vom Weltenherrscher, in dem der Buddha die Bedingungen schildert, unter denen der kommende Buddha Maitreya erscheinen kann, finden wir eine genaue Beschreibung der Prozesse, die zum Niedergang führen, wie auch die Beschreibung der Bedingungen möglicher Transformation. Es sind Menschen, die miteinander beschliessen, das Rad der Geschichte umzudrehen. Sie haben den Zusammenbruch überstanden und sind zutiefst bewegt, als sie auf Gleichgesinnte treffen, die auch noch am Leben sind. Sie teilen ihre Erschütterung und ihre Dankbarkeit darüber.
Diese Passage des Sutra berührt mich besonders, weil sie so menschlich ist. Die Überlebenden haben den Zusammenbruch des alten Systems im Wald überstanden und als sie sich daraus wieder hervortrauen, begegnen sie anderen, die das Gleiche getan haben. Aufgehoben ist alle Feindseligkeit, vor Glück am Leben zu sein liegen sie sich in den Armen. Das verleiht ihnen die Kraft des Neubeginns. Die neue Ordnung entsteht aus dieser – erschütternden – menschlichen Umarmung. Es sind gar keine besonderen Menschen, die der Buddha da schildert, sondern ganz gewöhnliche wie Du und Ich. Miteinander sind sie in der Lage, sich der Wahrheit zu stellen, wie sie selbst durch ihr Verhalten den Zusammenbruch herbeigeführt haben und miteinander sind sie nun bereit, daraus zu lernen. Die erste und wichtigste Regel, die sich geben, ist: Leben nicht zu verletzen. Wer jetzt als Leser des Sutra meint, die Neuordnung ginge zügig voran, wird eines anderen belehrt. Sie braucht unendlich lange, weil das Bewusstsein der Überlebenden Schritt für Schritt die alten Prägungen überwinden muss um die Neue Ordnung zu bilden.
Das führt mich zurück zur Transformation der Raupe zum Schmetterling
Was sagt mir das Bild?
Die neue Ordnung entsteht inmitten der alten Ordnung
Besonders berührt mich der Ausdruck Knospenzellen. Sie scheinen aus dem Nichts heraus zu entstehen, es gibt für sie keine materiellen Vorläufer. Das heisst, sie entstehen aus einer Ganzheit, die sowohl die Raupe als auch den Schmetterling enthält. Wir können sie die innewohnende Weisheit nennen. Jede Knospenzelle enthält die ganze Information des Schmetterlings, wie auch den Weg dorthin. Der Schmetterling hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Raupe. Zu einer ersten Knospenzelle gesellen sich weitere dazu, sie teilen sich und vermehren sich und arbeiten zusammen, um das Leben auf neue Art zu organisieren. Am Anfang sind sie alle gleich, jede Knospenzelle enthält die Ganzheit, dann differenzieren sie sich und übernehmen unterschiedliche Lebensfunktionen.
Die Immunzellen des alten Systems reagieren alarmiert, ihr Auftrag ist, das alte System zu schützen und das tun sie, sie gehen auf die neuen Zellen los, versuchen sie zu vernichten.
Die Zellen der neuen Ordnung wachsen trotzdem.
Es hat mich überrascht, dass das alte System nicht nahtlos in das neue System übergeht, dass da ein Kampf stattfindet. Bei biologischer Transformation hätte ich mir das harmonischer vorgestellt. Warum eigentlich?
Die Transformation, die wir jetzt brauchen, geht auch nicht harmonisch vor sich. Das alte System behauptet sich mit aller Kraft nicht nur in der Politik und in der Wirtschaft, sondern überall und insbesondere in unserem eigenen Bewusstsein. Und was könnten die Knospenzellen sein?
Neue Formen des bewussten Seins, die aus unserer eigenen Mitte heraus entstehen.
Der Schaffner der deutschen Bahn hat es mir vorgemacht: er sprach aus seinem Herzen als mitbetroffener Mensch. Seitdem experimentiere ich.
Wie kann ich mich mit dem Herzen einbringen und andere darin unterstützen dasselbe zu tun? Wie kann ich den mich umschliessenden Kokon üblicher Denk- und Redeweisen über die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen von Innen heraus überwinden? Ich erlebe, dass meine Mitmenschen diese Sehnsucht auch haben. Es braucht nur wenig und schon sind wir in einer anderen Ordnung, der Ordnung der Verbundenheit, in der wir uns gemeinsam Sorgen machen, wie das Leben auf dieser Erde weitergeht. Überall wird über die Bedrohung gesprochen. Allerdings auf eine Weise, die weder tröstet noch hilft. Sie ist der Versuch der alten Ordnung sich zu immunisieren in der Hoffnung, wir könnten zu unserem ungestörten Konsumleben zurückkehren. So richtig glaubt das aber niemand. Was könnte man aber auch sonst wollen? Es ist der Ausdruck von Sinnlosigkeit und Hilflosigkeit. Darunter liegt die Sehnsucht nach Heilwerden.
Da wachsen die Knospenzellen.
Ich kann sie jederzeit aktivieren, indem ich mich darin übe, auf eine andere Weise mit meinen Mitmenschen zu sprechen. Und zwar aus meiner Mitbetroffenheit heraus. Wenn ich auf die Konfrontation mit bedrohlichen Fakten, auf moralische Appelle, Beschuldigungen und Besserwissen verzichte, bzw. darauf nicht eingehe, kann etwas anderes geschehen.
Wir begegnen einander als bedrohte Menschen in unserem Wunsch zu leben,
Ich möchte diese Knospenzellen erwecken. Es gibt so viele Gelegenheiten in Gesprächen eine Wende herbeizuführen, seit mein Bewusstsein offen dafür ist, sehe ich sie überall und versuche es. Es macht Freude, es ist beglückend, es gibt Kraft. Auf einmal bin ich mit meinen Mitwesen in geteilter Sorge um unser Leben vereint.
Es ist der Beginn der neuen Ordnung – der Ordnung des Herzens.
Ich möchte kleine Gesprächszirkel initiieren, in denen wir über die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen sprechen. In denen wir das Bewusstsein unserer Betroffenheit vertiefen, in denen Innigkeit, Zärtlichkeit und Fürsorge für das Leben und füreinander wachsen können.
In denen wir die neue Ordnung kultivieren, bis wir stark genug sind, Taten folgen zu lassen
Aus Liebe zu allem Leben.